Der ist ja wirklich schief!
Oh ja, der Turm von Pisa ist wirklich schief. Obwohl er doch so heißt, „Der schiefe Turm von Pisa“, scheint doch jeder zweite erstaunt zu sein, dass der Name hier Programm ist. Und so mancher Klassiker stirbt einfach nicht aus: Das Foto des den Turm stützenden Besuchers, des Retters des Turmes, ist ein Evergreen.
Dabei werden seit Jahrhunderten tatsächlich Maßnahmen ergriffen, den schiefen Turm nicht schließlich doch ganz umfallen zu lassen. Schon während seiner Bauzeit, denn der Turm neigte sich bereits seit seine dritte Etage vollendet war, versuchte man Verschiedenes, um ihn wenigstens von innen gerade zu biegen. Man ließ schräge Böden ein, dünnte die neu hochgezogenen Mauern auf der Neigungsseite aus, um Gewicht zu sparen und baute doch tatsächlich gegen die Schieflage weiter. Wenn man genau hinsieht, scheint also tatsächlich genau das versucht worden zu sein: Man wollte den Turm geradebiegen.
Als das keine Wirkung zeigte, entschied man, von dem Plan abzusehen, eine Höhe von 100 Metern zu erreichen, 54 Meter mussten reichen. Zumindest sollen sie genug gewesen sein, damit Galileo Galilei Kugeln von oben herunterwerfen konnte. Über die Jahrhunderte hat man viele Rettungsmaßnahmen ergriffen, allerdings eher in einem trial and error-Prozess, denn erst seit dem Jahr 1911 wird der Neigungsprozess genau beobachtet und aufgezeichnet. Seit den 1990er Jahren ging es dann Schlag auf Schlag: 1992 wurden 18 Stahlreifen im zweiten Geschoss angebracht, da sich Risse gezeigt hatten, 1993 lehnte man 600 Tonnen Bleibarren als Gegengewicht auf die andere Seite, 1995 versuchte man es mit Stahlkabelverankerungen und 1999 entnahm man Bodenmaterial von der anderen Seite, so dass sich der Turm langsam um ein paar Grad aufrichtete und nun für ein paar hundert Jahre erst einmal gesichert ist.
Von all dem bemerkt der Besucher des Turmes nichts, er ist mit seiner eigenen – wenn auch rein optischen – Rettungsmethode beschäftigt. Vielleicht aber tritt er auch noch näher heran, geht herum und stellt sich womöglich sogar die Fragen „Wann (wurde er gebaut)?“, „Wozu (hat er gedient)?“, „Warum ist er schief?“…
Der schiefe Turm von Pisa wurde im Jahr 1173 begonnen, als Glockenturm für den danebenstehenden Dom der Stadt. In Italien wurden Glockentürme häufig als separate Gebäude neben die Kirche gebaut, in Mittelitalien allerdings üblicherweise auf quadratischem Grundriss und mit spitz zulaufendem Dach, nicht nur seine Schieflage, auch seine Form macht den Pisaner Campanile (Glockenturm) einzigartig. Er ist ein besonderer Höhepunkt im Kirchenensemble: Er bildet den höchsten und damit Gott am nächsten liegenden Punkt. Er ist von weitem sichtbar und durch die Glocken auch hörbar. Der Pisaner Turm war zusätzlich als Rückzugs- und Rettungsort des Klerus der Stadt geplant.
Warum aber neigt sich der Turm? Wer Geschichtsbücher wälzt, hat vielleicht schon einmal gesehen: Pisa war eine berühmte und mächtige Hafenstadt. So auch zu sehen an den symbolischen Schiffsketten im angrenzenden Camposanto (absolut einen Abstecher wert!). Ein antikes Hafenbecken, das längst zugeschüttet worden war, schlummert noch unter einer Hälfte des Fußbodens des schiefen Turmes. Das stark sandhaltige Füllmaterial war so viel Gewicht auf so kleiner Fläche nicht gewachsen, und so gab es nach, aber eben nur auf einer Seite.
Dieser bauliche Missgriff zieht nun Unmengen an Touristen an, zu Recht: Es ist ein absolut spektakulärer Anblick. Doch ein genauer Blick nach links und rechts lohnt sich ebenfalls. Nicht nur der Camposanto und der Dom gehört zum Ensemble, auch das Baptisterium, die Taufkirche, ist Teil des Ganzen und steht ebenfalls allein. Jedes dieser Gebäude ist für sich atemberaubend – räumlich, ästhetisch und historisch. Empfehlung für den Detailverliebten: Ein Gang mit wachem Blick ganz um die Gebäude offenbart merkwürdige Inschriftenfragmente. Es handelt sich um Spolien, wiederverwendete Architekturteile, die aus ganz anderem Kontext stammten und billiges Baumaterial abgaben. Dem Sprachkundigen und Kniffler mögen sie vielleicht ihre Geschichte erzählen.
Jeder Landstrich in Italien besticht durch einen ganz eigenen Charme, ein individuelles Flair. Um die Vielfalt des Landes möglichst umfassend zu erleben, hat sich Akademiereferentin Judith Graefe auf eine lange geplante Italien-Reise begeben. Mit ihrer Familie ist sie seit Beginn der Sommerferien in Italien unterwegs und schickt uns von unterwegs ganz besondere Blog-Beiträge.
Heute reist sie mit uns zum schiefen Turm von Pisa. In unserem Blog können Sie ihre Reise miterleben. Erste Station war Sterzing, heute sind wir in Pisa, dann geht es weiter nach Rom und zum Schluss über Pompeji zurück ins Rheinland.
12. Juli 2022 || ein Beitrag von Judith Graefe, Akademiereferentin Erkundungen